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Ernüchterung.

"Seite 3" Oktober 2016

Jetzt hat die AfD also auch bei den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern das politische Spektrum erschüttert. Sie konnte den etablierten Parteien nach den Wahlen im Frühjahr auch jetzt wieder viele Stimmen abjagen und, schlimmer (?) noch, in großer Zahl auch Menschen zurück an die Wahlurne locken, die zuletzt nicht mehr zur Wahl gegangen waren. Und das jetzt, wo man sich doch seit dem Schock in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gemartert hatte, wie man mit dieser rechtspopulistischen Partei umgehen solle, und nicht zu vergessen: Ton und Tun bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise verändert hatte.

Womöglich aber ist das Zuwanderungsthema ja vor allem Anlass, Ventil, vielleicht auch Plattform für viele enttäuschte Menschen sich bemerkbar zu machen; Menschen, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen, die sich ungerecht behandelt und in ihrer persönlichen Situation nicht beachtet fühlen. Menschen, die aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen Angst um ihre Zukunft haben. Wie habe ich kürzlich im Kabarett dazu gehört: „Es sind nicht die Flüchtlinge, es ist die soziale Ungerechtigkeit“, die die Menschen der AfD in die Hände treibt.
Dass es da Zusammenhänge geben könnte, das sehen wohl auch Vertreter der Bundesregierung so. Anders kann ich mir die Reaktionen auf die Rentenkampagne nicht erklären. So titelt der Spiegel gar: „Merkel warnt Gewerkschaften vor ungewollter AfD-Hilfe“. Gemeint ist, dass die DGB-Rentenkampagne Angst und Unzufriedenheit in der Bevölkerung fördern könnte und damit mittelbar die Wahl der selbsternannten Alternative. Nicht die Zustände also sind schuld, sondern diejenigen, die sie anprangern. Naja.
Dann droht es mir jetzt ähnlich zu ergehen, wenn ich meine Ernüchterung zum Thema Steuergerechtigkeit zum Ausdruck bringe. Denn was hat der kleine Steuerzahler da in den letzten Wochen nicht alles erleben dürfen!
Ich denke an die Einigung im Vermittlungsausschuss über eine sogenannte Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer, ich denke an die Apple-Affäre, an die Aussagen des Bundesfinanzministers zur Finanztransaktionssteuer, aber auch an den Bericht der Europäischen Kommission zur sogenannten Mehrwertsteuerlücke.
Es mag schon sein, dass die Mehrzahl der Menschen im Lande nicht versteht, was da passiert. Aber sie spürt es! Die Menschen spüren, dass da wieder einmal eine Mogelpackung herausgekommen ist bei den Verhandlungen über die Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Eine Mogelpackung, weil die Vermögendsten im Land auch künftig weitgehend um die Zahlung von Erbschaftsteuer oder Schenkungsteuer herumkommen werden. – Niemand bezweifelt, dass man in der Politik Kompromisse eingehen muss, um Dinge voranzubringen und Schlimmeres zu verhindern. Aber so?
Die Menschen im Land verstehen vielleicht auch nicht genau, was da geschieht, wenn die EU-Kommission Apple auffordert, an die Republik Irland 13 Milliarden Euro zu zahlen. Aber sie spüren, dass es zum Himmel stinkt, wenn das Land dieses Geld nicht will und zwischen den wohlfeilen Reden deutscher Politiker zum Thema Steueroasen wenige Wochen zuvor und ihren Reaktionen auf die Zahlungsaufforderung Welten liegen. – Ich hatte in der April-Ausgabe eine „Zeitenwende“ angezweifelt, fühle mich heute bestätigt, ernüchtert.
Die Menschen haben womöglich auch schon wieder vergessen, dass sich auf dem Höhepunkt der Finanzkrise fast alle einig waren, oder vorgaben es zu sein, eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, aber sie spüren, wie das Spekulantentum fröhliche Urstände feiert. Und jetzt hat der Bundesfinanzminister kundgetan, dass da kaum noch Hoffnung bestünde! – Wie? Jetzt, bevor man gegen die widerspenstigen Briten durch die Brexitverhandlungen endlich einen Hebel in die Hand bekäme? Erstaunlich.
Oder verhält es sich da vielleicht so ähnlich, wie bei der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die den kleinen Leuten ihre Lebensversicherungen und ihr Sparen ruiniert und letztlich die Hoffnung auf ein besseres Leben raubt! Kann das mächtige Deutschland wirklich keine Korrektur erreichen, wo man doch so dagegen ist?
Und dann platzt in diesen September noch die Nachricht der EU-Kommission, dass im Jahr 2014 in der EU 160 Milliarden Euro erwartbare Umsatzsteuer nicht eingenommen worden sind, insbesondere durch den seit mehr als zwei Jahrzehnten bekannten Umsatzsteuerbetrug.
Aber alles, was man reichen Erben schenkt, Spekulanten belässt, Betrügern – ja – gibt, das müssen andere bezahlen. Oder es fehlt ganz.